Soll Lena in eine afrikanische Dorf-Schule gehen ?

Mitte 1984 waren wir ungefähr ein halbes Jahr als Entwicklungshelfer in Kenia. Lena, unsere 5 Jahre alte Tochter brachte schon lange den ganzen Tag auf dem Nachbarhof zu, spielte mit den sechs Nachbarkindern und hatte auch schon Zutrauen zu deren Eltern gefaßt. An diesem Tag nun begleitete sie die Mutter Eunice Wambui zum Marktflecken Kagundu-ini, der etwa drei Kilometer entfernt ist. Die Mutter wollte Gemüse auf dem Markt verkaufen. Lena empfand es als Privileg, mitgehen zu dürfen. Sie erhielt auch etwas zum Tragen (bei uns hätte sie selbst getragen werden wollen). Sie schleppte es nach Kikuyu-Sitte in einem Korb auf dem Rücken, den Trageriemen über die Stirn gelegt. Die Kikuyus bilden den größten Stamm Kenias. Sie leben im fruchtbaren aber hügelig-bergigen Hochland der Zentralprovinz.

Es war Mittagszeit, die Sonne brannte herab, der Weg war staubig. Als man schließlich am Markt ankam, war dieser fast überfüllt mit Grundschülern der umliegenden Schulen. Diese hatten nämlich vormittags in der Nähe des Marktes ein Kulturfestival abgehalten, hatten jetzt frei und machten den Markt unsicher. Nachdem sie vorher schon auf dem Platz, wo sie das Festival abgehalten hatten, fast alle Blumen und kleinen Sträucher niedergetrampelt hatten, versuchten nun die Marktfrauen, die Kinder daran zu hindern, kreuz und quer über ihr Obst und Gemüse, das wie gewöhnlich auf Säcken am Boden ausgebreitet war, zu laufen.

Lena sehen und unter "Muthungu" (Europäer)-Geschrei zu ihr hinstürzen, war eins. Lena drängte sich enger an Eunice Wambui, und diese konnte die Kinder nur mühsam davon abhalten, Lena an den Haaren zu ziehen, sie zu betatschen und zu kneifen. An einem Marktstand, wo die Mutter selbst etwas kaufen wollte, wurde es noch ärger. In ihrem Eifer, an Lena heranzukommen, trampelten die Kinder auf den ausgelegten Sachen herum, und jetzt riß dem Verkäufer, einem älteren Mann, der Geduldsfaden. Er verteilte wütend Ohrfeigen, die Kinder spritzten auseinander, und Lena hatte etwas Ruhe. Abends kam sie verschwitzt, aber glücklich nach Hause und berichtete uns die ganze Geschichte.

Ein gutes halbes Jahr später, im Januar 1985, stellte sich uns die Frage, ob wir Lena zur hiesigen Grundschule schicken sollten. Man kann sich sicherlich unsere gemischten Gefühle vorstellen, und wenn man nur die eben geschilderten Erfahrungen gehabt hätte, hätte vermutlich jeder gesagt: "Nur das nicht." Aber es gab eine ganze Reihe anderer Sachen, die uns dazu brachten, einen Schulbesuch Lenas in Erwägung zu ziehen. Lena hatte sich bewundernswert auf die hiesigen Verhältnisse eingestellt. Sie hatte sofort Kontakt mit den Nachbarkindern, und mit dem ältesten Mädchen - Flora - (acht Jahre) verbindet sie mittlerweile eine enge Freundschaft. Innerhalb von drei bis vier Monaten sprach sie fließend Englisch, nach weiteren drei Monaten fließend Kikuyu.

Sie hat "Familienanschluß" auf dem Nachbarhof, einer vielleicht etwas überdurchschnittlichen "Shamba" mit fünf Acres (1,5 Hektar). Davon sind ca. drei Acres mit Kaffee bebaut. Die gepflückten Bohnen werden regelmäßig bei einer Kaffee-Fabrik, drei Kilometer entfernt, abgeliefert. Dort wird die erste Stufe der Aufbereitung durchgeführt und auch das Geld an die Farmer ausbezahlt - meistens mit großer Verspätung. Mit ungefähr 10000 kenianischen Shilling (2000 DM) im Jahr kann gerechnet werden. (Mittlerweile hat ein starker Preisverfall stattgefunden!) Interessanterweise trinken die Leute hier fast ausschließlich Tee, der in den höheren Gebieten angebaut wird. Ein weiterer Acre ist für Mais und Bohnen gedacht. Beides ist während der letzten Saison verdorrt, weil die große Regenzeit ausblieb. Der verbleibende Acre wird als Kuhweide für die drei Kühe benutzt und beherbergt einige Mangobäume sowie das Haus, ein Lehmbau mit Wellblech gedeckt, den Getreidespeicher, Latrinen und das Kuhgatter.

Grafik des Hofs

Es gibt zwar eine Wasserleitung (das "Kandara Waterscheme", mit deutschen Geldern erbaut), die Wasser aus dem Aberdare-Gebirge bringen sollte, das passiert aber in unserem Gebiet nur zweimal im Jahr für einen Tag. Dachrinnen gibt es nicht, sie sind allgemein seiten anzutreffen, obwohl mit etwa 1200 mm Niederschlag im Jahr gerechnet werden kann. So muß Wasser vom Bach geholt werden, der tief unten im Tal fließt, aber auch in Trockenzeiten noch Wasser führt. Wir selbst sammeln Regenwasser und kommen damit gut aus.

Wasserholen, Feldarbeit, Kühebeaufsichtigen und Essenkochen wird von der Mutter und den Kindern besorgt, wobei Lena sich danach drängt, mitzuhelfen. Das passiert bei uns nur in Ausnahmefällen. Besonders das Kühetreiben liebt sie, und ihr bisher unerfüllter Wunschtraum ist es, eine Kuh zu melken. Der Vater übernimmt das Kaffee-Schneiden und -Spritzen und ist - wie häufig hier - nach Kaffeegeld-Auszahlungen längere Zeit in Kneipen anzutreffen. Nach der Heimkehr gibt es dann und wann mal Prügel für die Frau, was Lena doch betroffen gemacht und ihr Verhältnis zum Vater wieder abgekühlt hat. Obwohl es andererseits ein Lieblingsspiel der Kinder ist, Betrunkene zu beobachten und nachzumachen. Unsere Haushaltshilfe äußerte sich mal folgendermaßen: die Männer hier denken, wenn sie heiraten, sie kaufen einen Esel (es gibt noch das System des Brautpreises).

 

Zersiedlung und Landflucht

Der Nachbar war dreimal verheiratet und hat insgesamt sieben Söhne, unter die die Shamba nach seinem Tode aufgeteilt wird. Dabei ist es aber bereits sehr schwierig, von einem Acre eine Familie zu ernähren. Hier sammelt sich großer sozialer Sprengstoff an. Die Regierung versucht, durch Einführung handwerklicher Fächer an den Schulen einen Ausweg zu schaffen und dem Bestreben von Eltern und Schülern, in den Städten einen "White-Collar-Job" zu finden, zu begegnen.

Klammer auf: Im November 1999 starb Moses Ngaruiya. Die Shamba wurde nicht aufgeteilt, er hatte sie vorher im Grundbuch auf seine Frau überschreiben lassen. Klammer zu.

Den Menschen ist das Problem bewußt, man ist aber mehr oder weniger geneigt, individuell für sich Lösungen zu finden. Nach meinem Eindruck sind viele traditionelle Bande zerrissen. Es sind durchaus Initiativen in der Bevölkerung freigesetzt worden, aber andererseits werden hier selbst die Ärmsten der Armen noch beklaut und dem Alkohol Verfallenen wird das Land für lächerliche Summen abgenommen. Ein Farmer aus der näheren Umgebung kommentierte wie folgt: "Selber schuld, warum sind die so dumm."

Lena ißt häufig zu Mittag bei den Nachbarn. Meistens gibt es Bohnen und Mais oder Ugali (Maisbrei) mit etwas Gemüse. Ausgesprochenen Hunger gab es hier auch nicht als die große Regenzeit ausgeblieben war. Der gelbe Mais aus Amerika, den niemand mag, wurde über die Kaffee-Fabriken verkauft, wobei der Preis später vom Kaffee Geld einbehalten wurde. Auch die drei Kühe überlebten. Ganz Kenia verlor allerdings die Hälfte des Viehbestands!

Ein weiterer Grund, der uns bewog, Lenas Schulbesuch zu bedenken, waren die positiven Erfahrungen mit dem Kindergarten. Dieser ist gleich bei uns nebenan - ebenfalls ein Lehmhaus. Im Oktober 84 fing sie dort an. Auch hier bedrängten alle Kinder zunächst Lena, und diese wich die erste Zeit nicht von der Seite der Erzieherin. Aber schon nach ein paar Tagen spielte man ganz normal zusammen.

Auch der Nachbarjunge Patrick sollte im Januar 85 eingeschult werden, Lenas Freundin Flora geht bereits in die dritte Klasse, ein weiteres Mädchen der Nachbarn in die zweite, und wir fanden eigentlich diesen Moment am passendsten, auch Lena in die Schule zu schicken. Ein Jahr später hätte sie noch mehr wie ein Riese unter Zwergen gewirkt. Sie ist auch für europäische Verhältnisse sehr groß. Lena selbst wollte unbedingt in die Schule, besonders weil sie auch eine Schuluniform haben wollte und um Flora nachzueifern. So entschieden wir uns dafür.

Foto Lena mit Klasse

Lena inmitten ihrer Dorf-Schulklasse

 

Der erste Schultag

Anfang Januar 85 ging ich dann mit ihr zum Rektor der Gaichanjiru Primary School. Zunächst trafen wir dort eine Lehrerin, die Lena ganz gut kennt. Sie versprach, ein Auge auf unsere Tochter zu haben. Dann betraten wir das äußerst einfache Büro. Lena versteckte sich hinter mir und weigerte sich, dem Rektor die Hand zu geben - peinlich. Den Rektor kümmerte das nicht weiter. Er nahm mir 300 kenianische Shilling ab (60 DM) und schickte nach Lenas Klassenlehrerin. Eigentlich sind Schulgebühren für Grundschulen in Kenia abgeschafft. Die 300 Shilling sind Harambee-Funds für die Einführung der handwerklichen Ausbildung in den neuen achten Klassen. Harambee ("laßt uns an einem Strang ziehen") bedeutet, daß die regionalen Gemeinschaften das Geld für bestimmte Projekte aufbringen.

Ein einfacher Landarbeiter kommt in dieser Gegend auf knapp 500 kenianische Shilling monatlich (100 DM). D. h. für jemanden, der keinen Hof besitzt - das ist allerdings recht selten -, ist es sehr schwer, das Geld aufzubringen. Etwa 10% der schulpflichtigen Kinder gehen nicht in die Schule. Einfache Schreibhefte und Schulmilch gibt es frei. Bücher sind äußerst selten.

Dann kam die Lehrerin, nahm Lena bei der Hand und ging mit ihr in die Klasse. Lena marschierte tapfer mit. Ich verbrachte ein paar unruhige Stunden im Projekt und holte sie mittags wieder ab. Umgeben von einer Riesenschar Kinder kam sie zusammen mit Flora und Faithy angestiefelt. Sie war kurz vorm Weinen. Rein ins Auto, ein paar kleine Jungen schlüpfen schnell noch mit rein, und ab geht's. Lena hatte sich an einem Nagel den Finger aufgerissen. Sie hatte es vorgezogen, während der Pause bei der Lehrerin im Klassenzimmer zu bleiben. Eine Schar Kinder wollte von außen die Tür aufdrücken, aber Lena und Siko, die sie noch vom Kindergarten kannte, hielten gegen und dabei verletzte sie sich. Ansonsten aber war sie ganz stolz, daß sie nun ein Schulmädchen war.

Die Klassenräume sind spartanisch eingerichtet: eine Tafel auf die Wand gemalt, rohe Bänke und keine Scheiben oder Fensterrahmen in den Fensterlöchern. Die etwa 30 bis 40 Kinder der Klasse werden in drei Gruppen eingeteilt und je nach Startbedingungen von der Lehrerin unterschiedlich unterrichtet. Patrick vom Nachbarhof, der etwas später anfing, da die Eltern noch Zeit brauchten, um das Geld zu bezahlen, kam in die Gruppe, die noch nicht schreiben konnte. Er war nämlich nicht in den Kindergarten geschickt worden, der vielleicht besser mit Vorschule zu beschreiben ist. Nach Berichten Lenas hatte er große Schwierigkeiten, Buchstaben und Zahlen zu schreiben und bekam dann und wann mal was mit dem Stock auf die Finger, wenn er nach Meinung der Lehrerin sich nicht genug Mühe gegeben hatte. Lena gehört zu den Besten der Klasse. Bisher lernten die Kinder: einfache Kisuaheli-Worte (Kisuaheli ist die Nationalsprache Kenias), die Kikuyu-Vokale, englische Buchstaben und simple Additionen. Außerdem wird gesungen, mit Ton modelliert und zweimal in der Woche ist Sport angesagt.

Noch war da das Problem mit den anderen Kindern. Doch Lena schloß schnell Freundschaft mit ihren Klassenkameraden/innen und schon am nächsten Tag spielte sie während der Pause draußen, wie mir die Lehrerin aus der Nachbarschaft berichtete. Dabei folgte ihr allerdings eine Schar Kinder auf Schritt und Tritt (auch zur Toilette). Doch sie wahrten Abstand, weil sie von den Lehrern verwarnt worden waren. Doch schon ein paar Tage später gab es keine Probleme mehr. Auch beim Abholen merkten wir bald, daß es eigentlich nur noch wir, meine Frau oder ich, waren, die die Riesenkinderscharen anlockten. Daraufhin probierten wir es einfach aus, Lena die drei Kilometer alleine kommen zu lassen, d.h. mit den Nachbarkindern, und es klappte wunderbar. Sie blieb nun unbehelligt, man hatte Lena akzeptiert.

Als sie dann noch die Schuluniform bekam, die hier für alle Schüler obligatorisch ist, war ihr Glück vollkommen. Nur barfuß zu laufen, wie die meisten anderen Kinder, erlauben wir ihr nicht.

Im Jahre 2011 besuchten wir Kenia im Rahmen eines dreiwöchigen Urlaubs. Wir trafen viele Nachbarn und besuchten auch das Youth Polytechnic in Kagundu-ini. Einen Bericht über unsere (sehr positiven) Erfahrungen finden Sie hier (pdf, 700 kB) >>

 

Stand: 14.12.2011

 
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