Da
saß sie nun im VW-Bus, eingeklemmt zwischen umfangreichen
Gepäckstücken: Ein kleines Mädchen mit kurzen strohblonden
Haaren und frechen blauen Augen. Lehmhütten,
Maisfelder, Kaffeesträucher, Bananenbäume, grasende Kühe
und winkende Schulkinder zogen vorbei; von ihren Eltern
mit einer Mischung aus Neugier du Sorge betrachtet. Denn
von heute an hieß es in dieser abgelegen Gegend mit völlig
unbekannten Menschen in einer total fremden Kultur zu
leben. Lena
war nichts anzumerken. Sie zappelte herum, wie immer,
und ihr Mund arbeitete auf Hochtouren, wie immer. Was
ihr, wie immer, tadelnde Blicke ihrer Mutter eintrug.
Würden
wir unter Wassermangel leiden? Wie würden die hygienischen
Verhältnisse sein? Würde Lena Spielkameraden haben? Würde
sie von gefährlichen Insekten und Schlangen gebissen werden?
Kriminalität sollte ein großes Problem sein - würde man
sich an einem Kind vergreifen? Hier war das Gebiet des
Mau-Mau Aufstands, einer Bewegung, der damals in Europa
große Brutalität nachgesagt wurde.
Das Rumpeln wurde leiser. Wir bogen von der Strasse ab,
fuhren eine Einfahrt hinunter und hielten vor unserem
Haus. Die
Koffer wurden ausgeladen. Lena setzte ihren Rucksack ab.
Die Hauseigentümerin schloss die Türen auf und zeigte
uns alles. Der Bus fuhr zurück. Wir waren allein.
Lena nahm aufgeregt alles in Augenschein. Dann ging es
ans Auspacken und Einrichten, vor allem aber ans Saubermachen,
denn das Haus hatte lange leer gestanden. Mitten
im Gewühl stahl sich ein kleiner Blondschopf aus dem Haus
und ging langsam hinüber an den Stacheldrahtzaun, der
zusammen mit einer Hecke und einigen Mango-Bäumen die
Grenze zu unseren Nachbarn bildete. Hier stand schon seit
geraumer Zeit eine Handvoll Kinder und blickte aus dunklen
Augen neugierig herüber.
Die
Kinder liefen alle barfuss und eins hatte eine Schnodder-Nase.
Die Verständigung gestaltete sich schwierig. Sie sprachen
Kikuyu und versuchten sich mit ein paar Brocken Englisch.
Lena
sprach Deutsch und verfügte ebenfalls über ein paar wenige
Brocken Englisch.
Nach der ersten gegenseitigen Begutachtung schafften es
die Nachbarkinder per Kikuyu und Zeichensprache, Lena
dazu zu bringen, einen herumliegenden langenMaisstrohhalm
aufzuheben. "This one?" fragte sie. "This one!" kam es
von der anderen Seite des Zauns. Dann
rannten alle unter lautem Juchen, "this one"-Rufen und
mit wehendem Maisstrohhalm diesseits und jenseits des
Zauns auf und ab. Später
ging man dann mit Hilfe der erprobten "this one"-Verständigung
auf Äste, Steine und Lenas Spielzeug über.
Das Haus
Abends
wird es früh
dunkel in Kenia. Wir zündeten Kerzen und Petroleum-Lampen
an. Wasser zum Waschen und Kochen hatten wir vorher per
Eimer ins Hausgebracht. Später installierten wir
einen Schlauch mit Handpumpe. Der Hauswirt hatte noch
ein Spülkloh und eine Dusche für uns einbauen
lassen. Mit dem Wasser mussten wir sehr sparsam sein.
Nach dem Essen verstaute Lena den Inhalt ihres Rucksacks
in dem Einbauschrank, der in ihrem Zimmer war. Waschen,
Zähne putzen, dann wurden die Gitter geschlossen
und die Türen zugemacht. Lena schlief schnell ein.
Die grossen Spinnen im Haus hatten wir besetigt. Sie stellten
sich auch als völlig harmlos heraus.
Nach
einigen Tagen trauten sich die Nachbarkinder zu uns herüber.
Der deutsch-englische Sprachschatz nahm zu, auch weil
Flora dazustieß. Sie war acht Jahre alt und hatte
bis zum Spätnachmittag Schule, wo sie auch schon
etwas Englisch gelernt hatte.
Lena jedoch traute sich noch nicht auf die andere Seite.
Sie hatte einen gehörigen Respekt vor den Eltern
der KInder. Wenn es mal Streit gab, rief etwa Patrick
Wanyoike: "I go and hol my mother!", und
dann war
Lena nicht mehr zu sehen. Aber
nach einigen Wochen war das Eis gebrochen, und Lena krabbelte
durch den Zaun.
Bald
fühlte Lena sich hingezogen zur Mutter und wurde
das siebte Kind der Familie. Begeistert half sie bei der
Hausarbeit: Wasser vom Bach holen, Essen vorbereiten,
die Hütte fegen und auf das Jüngste aufpassen.
Ihre Lieblingsbeschäftigung aber war es, die Kühe
zu treiben und zu hüten.
Wenn Flora von der Schule kam, war meist noch Zeit ein
bißchen zusammen zu spielen. Danach kam wieder die
Hausarbeit. Das Abendessen mußte vorbereitet werden. Nach
drei Monaten sprach Lena fließend Englisch, nach
weiteren drei Monaten fließend Kikuyu. Bald kam
sie nur nch zum Schlafen nach Hause.
In
der ganzen Bande nahm Flora die wichtigste Stellung ein,
weil sie die älteste der Clique war. Sie demonstrierte
wie man Fangen, Verstecken, Mutter und Kind, Schule, Ball,
Kuh und ähnliches spielt. Sie zeigte Fadenspiele
und bastelte aus Konservendosen, Kronkorken und Maisstroh
einfaches Spielzeug. Lena bewunderte sie, und beide verband
bald eine enge Freundschaft. Selten war mal eine ohne
die andere zu sehen.
Wenn Flora nicht
so viel zu tun hatte, durfte sie auch mal bei Lena schlafen.
Lena kannte die Kühe beim Namen. Einige ihrer Spielsachen
wanderten in Kuhmägen. Sie konnte Sungura (Hase),
Jatta und December am Klang ihres Muhens unterscheiden.
Ihr Traum war es, eine von ihnen zu melken. Das war den
Kindern aber streng untersagt.
Einmal aber fühlten sich Patrick und Lena mutig genug
und begannen einer Kuh am Euter zu zupfen. Siehe da,etwas
Milch kam heraus. Lena stürzte in die Hütte,
um eine Blechschüssel zu holen. Vor lauter Eifer
stolperte sie und schlug mit de Kopf ans Tischbein. Mit
einer dicken Beule und unter Tränen kam sie nach
Hause zurück.
Zum Arzt
Der Arzt entfernte mit einer Nadel den Grund des Übels:
einen Sandfloh. Lena schrie und trat aus Leibeskräften
und mußte von drei Leuten festgehalten werden.
Sandflöhe bohren sich in die Haut an Fuß- und
Fingernägeln und rufen kleine Eiterpickel hervor,
die, rechtzeitig erkannt, schmerzlos mit einer kleinen
Nadel entfernt werden können. Lena
bekan mit schöner Regelmäßigkeit Sandflöhe.
Jetzt achteten wir darauf und entfernten diese Stellen
während Lena schlief. Doch bald lernte sie, sich
diese selbst zu entfernen (siehe Foto).
Besonders während der Trockenzeit mussten die Kinder
oft zum Fluß und Wasser holen. Mit kleinen Plastikkanistern
bewaffnet liefen sie die 300 Meter durch die Farm steil
bergab zu einem schmalen Bach.
iHier trödelten sie auch gerne etwas herum.
Lena vollbrachte das Kuststück mehrmals in das Rinnsal
zu fallen. Die Kinder tranken auch Wasser vom Bach, was
wir Lena ausdrücklich verboten hatten. Irgendwann
gestand sie uns, dass sie es trotzdem getan hatte und
versetzte uns in Panik - kam jetzt der schlimme fieberhafte
Durchfall? Zum Glück blieb er aus, nichts passierte.
Als wir schon einige Zeit in Kenia lebten, gab es ein
Kalb auf dem Nachbarhof. Es war männlich und temperamentvoll,
so hatte es etwa schon mal Rose über den Haufen gerannt.
Eines schönen Tages war es den Kindern, die eigentlich
hätten aufpassen sollen, abgehauen und war bei uns
am Wassertank gelandet. Wir fürchteten um den Verlust
des Wasserhahns und damit um den gesamten Tankinhalt.
Das
wäre einer wirklichen Katastrophe gleichgekommen.
So wollten wir es wieder rübertreiben, da kam Lena
angerannt: "Vorsicht! Das Kalb das boxt. Laßt
uns das machen." Und dann trieben die Stepkes das
gefährliche Viech an den erstaunten Eltern vorbei
vom Hof.
Ab und an begleitete Lena die Mutter von Flora zum drei
Kilometer entfernten Markt, meist um ihr zu helfen, Gemüse
zu verkaufen. An einem dieser Tage hatten die Grundschüler
der Umgebung hier ein Kulturfestival abgehalten und machten
nun anschließend den Markt "unsicher". Als
sie Lena sahen, strömte alles unter "Muthungu"
(Europäer) Rufen zusammen und versuchte einen Blick
auf Lena zu erhaschen, sie gar zu berühren oder ihre
Haare zu fühlen. Lena drängte sich enger an
die Mutter. Als die Kinder nun in ihrem Eifer noch auf
einigen ausgelegten Sachen herumtrampelten setzte es Ohrfeigen
vom Standeigentümer. Alles spritzte auseinander,
Lena hatte Ruhe. Wie
gewöhnlich kehrte man kurz vor dem Dunklewerden nach
Hause zurück. Später ging Lena auch oft mit
Flora alleine zum Markt, um kleine Einkäufe zu erledigen..
Der Kindergarten befand sich gleich auf der anderen Seite
unseres Grundstücks. Es war ein baufällig wirkender
Lehmbau mit einem rostigen Wellblechdach. Nachdem
wir die Kindergärtnerin kennengelernt hatten, wollte
Lena auch gerne teilnehmen. Die erste Zeit wich sie nicht
von der Seite der Lehrerin und sie durfte sogar mit am
Pult Platz nehmen, weil sie doch sehr bedrängt wurde
von den anderen Kindern. Das
gab sich aber bald und dann man spielte gemeinsam und
lernte zusammen die Zahlen und das Alphabet.
Gemäß der Tradition erhalten Söhne ab
einem bestimmten Alter eine eigene Hütte auf der
elterlichen Farm. Als
es nun bei Floras großem Bruder soweit war, beteiligten
sich die Kinder mit Feuereifer an den Vorbereitungen.
Zunächst wurden aus Stämmen und Ästen grobmaschige
Wände und ein Dachgestell errrichtet. Einige Tage
später wurde Wellblech aufs Dach genagelt und dann
folgte der Hauptspaß: Eine Grube wurde ausgehoben
und darin wurde mit etws Wasser Lehm gestampft - mit bloßen
Füssen. Mit diesem Material wurden dann die Wände
bepflastert. Richard
wurde von allen Kindern sehr bewundert.
Nach einem Jahr Kindergarten wollte Lena unbedingt in
die Schule. Sie war erst 5 1/2, aber Patrick sollte eingeschult
werden und natürlich wollte sie Flora nacheifern.
Wir hatten Angst, dass sie von einer Unzahl von Kindern
bedrängt werden würde. Die Nachbarn aber ermunternten
uns, und so ging ich zusammen mit Lena zum Rektor. Der
schickte nach der Lehrerin, und diese nahm Lena gleich
mit in die Klasse. Ich
verbrachte einige unruhige Stunden im Projekt. Mittags
holte ich sie mit dem Auto ab. Während der Pausen
war sie bei der Lehrerin geblieben. Aber schon nach einigen
Tagen war Lena etwas ganz Normales an der Schule, und
nur wenn ich sie und ihre Freunde manchmal mit dem Auto
oder dem Motorrad abholte, sorgte das noch für Aufsehen.
Über Nacht bei Flora
Nicht
nur Flora schlief öfters bei uns, auch Lena schlief
ein paarmal bei den Nachbarn. Mehrere Kinder mußten
sich ein Bett teilen, und so ergab sich diese Gelegenheit
immer nur dann, wenn etwa die Eltern zu Oma und Opa nach
Nyahururu fuhren. Dann paßte Wairimu, die auch bei
uns im Haus half, auf die Kinder auf.
Alle Sorgen, die wir uns anfangs um Lena
gemacht hatten, stellten sich als unbegründet heraus.
Sie hatte sich vollständig eingelebt und genoß
das Leben auf dem Lande. An Krankheiten hatte sie hauptsächlich
mit Husten und Bronchitis zu kämpfen, weil es morgens
manchmal recht kalt war in der Schule.
Eines schönen Tages scheute plötzlich eine Kuh,
die gerade genüßlich an einer Hecke knabberte.
Die Kinder wurden aufmerksam und rannten hin. Zu ihrem
großen Schrecken sahen sie eine Schlange in den
Ästen. Sofort wurden die Nachbarn alamiert, die mit
Stöcken herbeieilten und die Schlange erschlugen.
Danach wurde sie sofort verbrannt.
Das war die einzige Schlange, die Lena dort zu Gesicht
bekam. Ob sie giftig war, konnten wir nicht herausbekommen.
Nach drei Jahen kam die Zeit, dass wir zurück nach
Deutschland mußten. Einige Wochen vorher kam ich
in meinem Projekt mit einem Kunden näher ins Gespräch.
Kurz bevor er ging, fragte er: "Ach wie geht es eigentlich
unser Tochter?" Ich verstand nicht. "Ja,"
sagte er, "dein Kind nennen wir hier nur 'unsere
Tochter', weil sie ist wie unsere Kinder." Ich
war gerührt. Wir waren von den Menschen in Kenia
liebevoll aufgenommen worden, und der Abschied fiel uns
allen schwer. (Foto:
Blick von unserem Haus auf den Mt. Kenya an einem besonders
klaren Tag.)
Lena und Flora
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Was
erwartet uns?
Mittlerweile hatte das Auto die Teerstrasse verlassen
und rumpelte über eine staubige Piste auf jenes - noch
etliche Kilometer entfernte - Haus zu, das für drei lange
Jahre ihr neues Heim sein sollte.
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Ankunft
im Dorf
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Der Zaun
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Die Begenung
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Das Loch im Zaun
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Familienanschluss
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Flora (Florence Wanjiru)
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Melken mit Hindernissen
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Eines
Tages war einer von Lenas großen Zehen dick angeschwollen.
Es schien etwas drin zu sein. Die Entzündung wurde
immer bedrohlicher. Schließlich fuhren wir zum Arzt
nach Nairobi. Dies entsprach jedesmal einem Tagesausflug
und war in der Regenzeit auch schon mal völlig unmöglich.
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Am Bach
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Das Kalb, das boxt
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Der Marktflecken
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Der Kindergarten / die Vorschule
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Richard Muchiri bekommt eine eigene Hütte
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Lena kommt in die Dorf-Schule
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Eine Schlange
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Der Abschied