Einschätzungen des Kieler Matrosenaufstands

Lothar Popp und Karl Artelt (Anführer des Kieler Matrosenaufstands):

"So war der Sieg über den Militarismus errungen. Damit aber ist die historische Aufgabe des Proletariats noch lange nicht gelöst. .... (es) muß eine andere Welt erstehen. Eine Welt ohne Haß und Neid, ohne Ausbeutung und Knechtschaft, eine Welt des Friedens, der Freiheit und des Rechts. Es ist die geschichtliche Aufgabe des Proletariats, diese Welt zu erbauen. Der Befreiungskampf der Arbeiterklasse ist der letzte Klassenkampf der Geschichte, er hinterlässt keine unterdrückten Klassen mehr."
Lothar Popp unter Mitarbeit von Karl Artelt: "Ursprung und Entwicklung der November-Revolution 1918.", Sonderveröffentlichung 15 der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Kiel, 1983

Schleswig-Holsteinische Volkszeitung, 5.11.1918:

"Die Flotte unter der roten Fahne
Der Sieg der Freiheit
Über der deutschen Flotte weht heute die rote Fahne der Revolution! Der 5. November 1918 wir ein ewig denkwürdiger Tag der deutschen Geschichte sein.
Endlich ist das Volk ganz befreit! Endlich hat das Volk ganz gesiegt!
"
Schleswig-Holsteinische Volkszeitung, Organ der (M)SPD, Kiel, 5.11.1918

Gustav Noske (Reichswehrminister 1919-1920):

" ... unter welchen etwaigen Voraussetzungen der Kieler Meuterei, die ich persönlich aufs schärfste verurteilte, ein Ende zu machen sei. Daß politische Reformen, ... erfüllt würden, sei selbstverständlich. Über eine Amnestie werde die Regierung mit sich reden lassen."
" ... das Verhalten der Sieger [hat] dargetan, wie begründet die Kriegspolitik der Mehrheitssozialdemokratie war, ... Solange ... die Gegner den ehrenvollen Frieden ablehnten, mahnten wir unser Volk zum Einsatz aller Kräfte, um die Niederlage und einen Diktatfrieden ... abzuwehren."

Gustav Noske: "Von Kiel bis Kapp", Verlag für Politik und Wirtschaft, Berlin, 1920, S. 23, 57

Robert A. C. Parker (Historiker, Oxford); der englische Blick auf die deutsche Revolution 1918:

In England war es zunächst umstritten, wie man Deutschland nach der Revolution behandeln sollte. Noch im März 1919 neigte der Premierminister Lloyd George (Liberaler) dazu, die neue deutsche Regierung durch eine "angemessene" Behandlung und eine Wiederherstellung der Prosperität zu unterstützen. Dadurch würde Deutschland eine Friedenskraft werden. Doch nach einer Unterhausdebatte über die Höhe der Reparationszahlungen im April 1919 gelang es den Konservativen, den Premier auf eine strengere Behandlung Deutschlands zu verpflichten. Ihr in England überzeugendes Argument war, dass die deutsche Regierung u. a. in den Personen Ebert, Scheidemann und Noske, den Krieg vorbehaltlos unterstützt habe und keine wirkliche Änderung ihrer Haltung erkennen ließe, wie es etwa in der Begrüßung der heimkehrenden Truppen durch Ebert deutlich geworden sei. Auch Noskes Vorgehen gegen die radikalen Linken wäre völlig überzogen gewesen, um die Alliierten von der nicht realen Gefahr eines drohenden Bolschewismus zu überzeugen. Ebenso wäre die Behauptung einer drohendenden Nahrungsmittelknappheit nur vorgeschoben gewesen, um bessere Friedensbedingungen durchzusetzen.
Robert, A., C., Parker: "England and the German Revolution of 1918". In: Michael Salewski (Hrsg.): "Die Deutschen und die Revolution. 17 Vorträge für die Remke-Gesellschaft - Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben." Göttigen 1984, S. 379-389.

Karl Dietrich Erdmann (Geschichtsprofessor in Kiel):

"... parlamentarische Demokratie und Rätediktatur ... schliessen einander logischerweise aus."
"... die Revolutionsregierung der Sozialdemokraten ... hatte keinen Erfolg ... eine eigene Armee zu schaffen."
"... infolge der mangelden Militanz der sozialdemokratischen Massen (musste die) Mehrheitssozialdemokratie (mit) ... konservativen Kräften aus Beamtenschaft und Offizierskorps (kooperieren)."
Karl Dietrich Erdmann: "Rätestaat oder Parlamentarische Demokratiel", Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Band 68 Heft 9/10, 1983

Wolfram Wette (Militärgeschichtliches Forschungsamt, Freiburg im Breisgau):

"Was er [Noske, K.Kuhl] jedoch nicht leistete und wegen seiner politischen Grundposition wohl auch gar nicht leisten konnte und wollte, war die beispielhafte Erprobung eines zukunftsorientierten republikanischen Reformprogramms. Ein solcher Test wäre in Kiel - zumal auf militärpolitischem Gebiet - durchaus möglich gewesen. Personelle und strukturelle Ansätze hierfür waren vorhanden. Noske hat sie nicht gefördert und nicht genutzt, sondern im Keim erstickt."
Wolfram Wette: "Als bei der Torpedo-Division der erste Soldatenrat gebildet wurde", Frankfurter Rundschau, 12.12.1988

"... das Signal von Kiel ... zielte nicht in Richtung Rätestaat nach bolschewistischem Muster. Vielemehr stand es ... für die Forderung nach schleunigster Beendigung des Krieges. In zweiter Linie wies es - beginnend mit den "Kieler 14 Punkten" - ... in die Richtung eines freiheitlichen, sozialen und demokratischen Staatswesens, in dem insbesondere der Militarismus ... keinen Platz mehr haben sollte."
Wolfram Wette: "Die Novemberrevolution - Kiel 1918"
, in Fleischhauer und Turowski: "Kieler Erinnerungsorte", Boyens, 2006

Michael Salewski (Kieler Historiker):

... Vorwürfe aus dem eigenen Lager, von denen, die sich enttäuscht abwandten und einen Spartakusbund gründeten, schmerzten und ließen sich nicht heilen - gerade deswegen versagte die SPD später in kritischen Momenten der Geschichte Weimars immer wieder: Vom Trauma des angeblich faulen Kompromisses mit dem "Klassenfeind" zutiefst geprägt, zog die Partei es vor, in der Opposition zu verharren. Deswegen konnten die anderen regieren. Die anderen: Das waren die immer unsicherer werdenden bürgerlichen Kabinette, das waren die immer autoritärer sich gebärdenden Präsidialkabinette ...
Aus einem Vortrag Prof. Michael Salewskis vom 4. November 1998 im Kieler Ratssaal über die Geschichte der deutschen Revolutionen.

Dirk Dähnhardt (erstellte 1978 eine Doktorarbeit zu diesem Thema):

"Kiel war das Signal zur deutschen Revolution 1918/19. In Kiel geschah ein Aufstand mit revolutionärem Charakter und mit einer über Kiel hinausweisenden revolutionären Tendenz. Der November 1918 war damit der bedeutendste Kieler Beitrag zur deutschen Geschichte."
"Der revolutionäre Charakter dokumentiert sich in der Ausweitung der Matrosenmeuterei auf die Arbeiterschaft sowie in der Bildung eines Soldaten- und eines Arbeiterrates. Die revolutionäre Tendenz ergibt sich vor allem daraus, dass die "14 Kieler Punkte" einer ganzen Reihe von lokalen Arbeiter- und Soldatenräten als Vorbild dienten."
Dirk Dähnhardt: "Revolution in Kiel", Karl Wachholtz Verlag, Neumünster, 1978
Dirk Dähnhardt in "Festschrift für Jürgen Jensen - ... wird die fernste Zukunft danken", Karl Wachholtz Verlag, Neumünster, 2004

Auslösendes Moment der Revolution war die Meuterei in Wilhelmshaven, von einer Revolution im eigentlichen Sinne können wir erst sprechen, nachdem die zentrale Macht in Berlin gestürzt war. Kiel war das Bindeglied zwischen diesen beiden Fixpunkten. Hier erweiterte sich der Konflikt um die Arbeiterschaft, von hier aus wurde der Impuls zur Ausbreitung der Unruhen gegeben. Es scheint daher gerechtfertigt, bei den Geschehnissen in Kiel von einem Aufstand mit revolutionärem Charakter und über Kiel hinausweisender Tendenz zu sprechen. Dies wird auch dadurch unterstrichen, dass in vielen Garnisonsstädten in Deutschland die 14 Kieler Punkte aufgenommen wurden und dass die paritätische Besetzung des Arbeiterrates Modellcharakter für viele andere Räte bis hin zu Rat der Volksbeauftragten in Berlin hatte.
Dirk Dähnhardt: "Revolution in Kiel – Fragezeichen oder Ausrufungszeichen?", Rede auf der Tagung: Verfassung der Weimarer Republik, ca. 1989 (aus dem Nachlass Dirk Dähnhardts)

Kommentar Klaus Kuhl:

Nachdem der Lotse von Bord gegangen war, griff die deutsche militärische und politische Führung mit dem großen Flottenbauprogramm in maßloser Überschätzung der eigenen Lage nach der Hegemonie. Dies war auf einem überlebten System im Inneren gegründet: Bürgertum und Arbeiterschaft waren von wichtigen politischen Entscheidungen ausgeschlossen. Am Ende des Ersten Weltkriegs wurde u.a. von Trotha der Plan entsickelt, die Flotte gegen England untergehen zu lassen. Dies begründete er auch damit, dass aus diesem "Todeskampf" eine "neue deutsche Zukunftsflotte hervorwachsen" würde. Der Kieler Matrosenaufstand eröffnete die Chance nun einen klaren Schnitt zu machen. Noske jedoch, der gegen jene polemisierte, die hofften, sich mit den Alliierten verständigen zu können, beliess Trotha auf dem Posten des Chefs der Admiralität. Es hätte Alternativen gegeben. Korvettenkapitän Paul Reymann hatte im Stab der Seekriegsleitung gegen den Plan votiert. So konnte Trotha schließlich die Neuauflage der hegemonialen Ansprüche tatkräftig mit entwickeln.
Heute wissen wir, dass Hass und Rachegedanken nur in einer gemeinsamen großen Anstrengung der europäischen Völker zur Vergebung und Versöhnung zu überwinden waren. Die Verantwortlichen aller politischen Ebenen lernten umzudenken und begannen schließlich zusammen ein friedliches Europa der Völker, Gruppen und Regionen aufzubauen. Dies war und ist das zentrale Vermächtnis der unzähligen Gefallenen, Verstümmelten und Traumatisierten zweier Weltkriege.
(Ausführlicher Kommentar >>)

Hans-Rudolf Boehmer (Vizeadmiral a.D., Inspekteur der Marine 1995-1998):

"Man stelle sich vor, die kaiserlichen Marineoffiziere, die ja überwiegend Bürgerlicher Herkunft waren, hätten sich 1918 auf die freiheitliche, nationale Gesinnung ihrer Väter von 1848 besonnen und sich an die Spitze des Kieler Matrosenaufstandes gestellt - ein Admiral hätte die Republik ausgerufen und das Deutsche Bürgertum mitgerissen- vielleicht hätte die Deutsche Geschichte schon damals von Kiel ausgehend einen glücklicheren Verlauf genommen. Aber eben das ist nicht vorstellbar, denn mit der Reichsgründung hatte Bismarck dem Deutschen Bürgertum ein für allemal den Schneid abgekauft, oder wie es Graf von Krockow in seiner Biographie über seinen Standesgenossen Bismarck schreibt: 'Erst Bismarck hat sie - die Nation -, sozusagen als ein Dieb von Format, aus dem Feldlager der Bürgerfreiheit gestohlen und ins konservative Gegenlager hinübergetragen.' Seit der Reichsgründung war nationale Gesinnung gleichzusetzen mit Kaisertreue. Und so wird Kiels bedeutendster Beitrag zur Deutschen Geschichte, der Ausbruch der Revolution von 1918 hier am Niemannsweg wohl bis auf den heutigen Tag eher als eine Peinlichkeit denn als ein notwendiger, entscheidender Wendepunkt der Deutschen Geschichte betrachtet."
Hans-Rudolf Boehmer: "Kiel und die Marine", Vortrag vor dem RC-Kiel am 2. Mai 2005, nach einer Kopie des Redemanuskripts zur Verfügung gestellt von Norbert Gansel

Dr. Dieter Hartwig (FKpt a. D., Marinehistoriker):

"Wer überhaupt sich in Kiel mit den Novemberereignissen 1918 in Kiel befasst, sieht seine Stadt gern als Keimzelle der zweiten deutschen Revolution. Dies ist doppelt falsch - der Ursprung allen Geschehens lag in Wilhelmshaven, und in Kiel gab es keine Revolution, … Strukturen sollten und wurden nicht umwälzend geändert, Eliten nicht beseitigt!
Die Matrosen [hatten] keine Revolution im Sinn …; und auch bei den Arbeitern ist … das Ziel Revolution nicht erkennbar. Man muß wissen, was man will, um eine Revolution zu machen und nicht nur einen Aufstand. Man muß das Ziel kennen, nicht nur den Startpunkt. Und in Wilhelmshaven wie in Kiel und wie die meisten auch in Berlin war man "nur" gegen etwas/jemanden/den, diesen Kaiser, wußte aber nicht genau, was/wer in die Stelle treten sollte.“
Aus: Dieter Hartwig: "November 1918 in Kiel - Ereignisse, Folgen, Reminiszenzen", Vortrag im Deutschen Marinemuseum, Wilhelmshaven, 13.12.2007, sowie Email an Klaus Kuhl vom 4.1.2008

Dirk Dähnhardt zu den Ereignissen im Februar 1919 (Spartakisten-Aufstand):

"Die Kieler Februarereignisse zeigen somit, daß die Auseinandersetzungen innerhalb der Arbeiterschaft [...] es diesen konservativen Gruppierungen ermöglichte, an Gewicht zu gewinnen und im November 1918 verlorengegangene Machtpositionen zurückzuerobern."
Dirk Dähnhardt: "Revolution in Kiel", Karl Wachholtz Verlag, Neumünster 1978, S 157.

Stellungnahme Kaiser Wilhelms II. zu einem der "letzten Schlacht der Flotte" vergleichbaren Thema:

Kaiser Wilhelm II über seine Abdankung (Rückblick 1922)
" Die Einen sagen: Der Kaiser hätte sich zu einem Truppenteil der Kampffront begeben, mit ihm auf den Feind stürzen und in einem letzten Angriff den Tod suchen sollen. – Dadurch wäre aber nicht nur der vom Volke heiß ersehnte Waffenstillstand, über den bereits die von Berlin zum General Foch entsandte Kommission verhandelte, unmöglich gemacht, sondern auch das Leben vieler, und gerade der besten und treuesten Soldaten, nutzlos geopfert worden."
Kaiser Wilhlem II, Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878-1918. Leipzig und Berlin: Verlag von K. F. Koehler, 1922, S. 242-246. zitiert nach German History Docs >>

 

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Stand 23.2.2018

 
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